Rhapsode schrieb:
Ich seh die Causa Graichen etwas anders als die bisherige Mehrheit hier, bin aber für das Thema Korruption und Transparenz äußerst sensibilisiert. Durch meine Arbeit in der Uni-Politik, wo Postengeschachere und Vorteilnahme Gang und Gäbe waren und durch die Beteiligung an mehreren Berufungskommissionen - wo man bisweilen schon als befangen galt und von dem Gremium ausschied, wenn es lediglich eine gemeinsame Publikation mit einem der Bewerber innerhalb der letzten 10 Jahre gab.
Mir wird da eher aus dem linken/grünen Lager ein wenig zu sehr bagatellisiert. Es ist ja in der Regel nicht gerade so, als ob man seinen Postboten mal eben um die Trauzeugenschafft bittet. Und dass er das wirklich "vergessen" hat, das Ganze also nur ein ärgerlicher Irrtum war, wer soll sowas ernsthaft glauben. Genauso wie die Tatsache, dass man den Verein der eigenen Schwester "aus Versehen" mit 600k Euro fördert.
Und Habeck - gegen den ich im Allgemeinen gar nichts habe - hat auch keine gute Figur gemacht. Er hätte einfach direkt sagen sollen, der Verbleib von Graichen wird vom Ergebnis der Prüfung abhängig gemacht. Jetzt steht er natürlich wie ein Dulli da, weil er meinte das Ergebnis vorwegnehmen zu können.
Und dass die Union viel mehr und heftigere solcher Skandale zu verantworten hat: Geschenkt. Hilft aber überhaupt nicht weiter, wenn es einem als Wähler um das Thema Transparenz, Compliance und Antikorruption geht. Wem soll man denn das Thema jetzt noch glaubwürdig anvertrauen können?
Mal davon abgesehen bin ich überhaupt nicht der Ansicht, dass die Methodiken von Graichen so zielführend und alternativlos für den Klimaschutz sind, wie sie gern dargestellt werden. Ich hab hier vor ein paar Posts bereits auf andere Argumente hingewiesen.
Danke, für deinen Beitrag. Ich kann deine Erfahrungen aus der Hochschulpolitik absolut nachvollziehen. Allerdings finde ich gerade das ein gutes Beispiel dafür, dass die Diskussion mMn in die völlig falsche Richtung läuft. Es muss doch möglich sein, ein objektives Urteil über eine Person zu fällen, die ich kenne oder mit der ich bereits zusammengearbeitet habe. Das ist für mich keine Korruption, sondern zeugt von Professionalität.
Kennt ihr die "Six Degrees of Kevin Bacon"? Diese Hypothese besagt, dass alle Hollywoodschauspieler über maximal sechs Knoten miteinander benachbart sind, in dem Sinne, dass sie bereits gemeinsam einen Film gedreht haben. Selbiges könnte man auch auf einen gute vernetzten Berufspolitiker anwenden. Natürlich hat Herr Graichen Verwandte und Bekannte mit ähnlichen Interessen, die in ähnlichen Berufsfeldern tätig sind. Das ist doch ganz normal, egal ob in der Politik, Wirtschaft, Wissenschaft oder jedem anderen Lebensbereich. Menschen sind evolutionsbiologisch darauf getrimmt, soziale Netzwerke zu pflegen. Personen ohne "Vitamin B" würden es in solch eine Position erst gar nicht schaffen. Ich behaupte, ähnliche Verbindungen findet man bei jedem anderen Staatssekretär auch, wenn man genau hinschaut.
Natürlich gibt es auch schwarze Schafe, die diese Verbindungen ausnutzen. Das nennt man dann Korruption und die ist aufs schärfste zu verurteilen. Aber hier war Herr Graichen Mitglied einer mehrköpfigen Kommission, die sich geschlossen für den Bewerber entschieden hat, der offenkundig am qualifiziertesten für diesen Job war. Das er gleichzeitig vor 20 Jahren Trauzeuge von Herrn Graichen war, ist doch völlig unerheblich. Herr Graichen hat das ja nicht allein entschieden. Genau aus diesem Grund sitzen da ja noch andere Leute.
Das er jetzt seinen Hut nehmen musste, ist doch nur einer konservativen Hetzkampagne zu verdanken, mit der auf Teufel komm raus versucht wird, das neue Gebäudeenergiegesetz doch noch zu verhindern. Wir haben in den öffentlichen Medien mittlerweile einen heuchlerischen Grad an Doppelmoral erreicht, der mMn eine echte Gefahr für unser Demokratieverständnis darstellt. Da wird ständig aufgrund irgendwelcher Nichtigkeiten eine Sau nach der nächsten durchs Dorf getrieben, nur um von den wirklich relevanten Themen abzulenken.
Und in dem Punkt bin ich ganz bei dir. Die Kommunikationsdefizite auf Seiten der Grünen befeuern diese Verhalten noch zusätzlich. Da werden Sachen als "Fehler" eingeräumt, die für den alltäglichen Politikbetrieb überlebenswichtig sind. Es gab sicherlich gute Gründe, warum der BUND Berlin eine Förderung von 600k Euro bekommen hat. Das war weder ein Fehler noch ein Versehen, egal wer dort im Aufsichtsrat sitzt. Nur dann erklärt es den Leute bitte vernünftig und versucht nicht den Kritikern mit solchen zweifelhaften Personalentscheidungen den Wind aus den Segeln zu nehmen. Das funktioniert nämlich nicht. Die Union zeigt doch, dass es auch anders geht. Ist zwar nicht immer gerechtfertigt, aber manchmal einfach notwendig, damit in diesem Land auch mal was vorwärts geht, anstatt sich z.B. wochenlang mit irgendwelchen potentiellen Plagiaten in Dissertationen auseinanderzusetzen. Die mildern den Klimawandel auch nicht.
Edit: Hier übrigens noch ein sehr aufschlussreicher Artikel darüber, was wirklich im neuen Gebäudeenergiegesetz stehen soll. Scheint ja irgendwie bei jedem anders anzukommen.