04.09.2019 09:50· Bearbeitet
... wobei der Titel etwas reißerisch ist, denn van Reybrouck ist nicht per se gegen Wahlen, sondern spricht sich dafür aus, dass Demokratien die ganze ihnen gegebene Palette der demokratischen Willensbildung verwenden, wodurch sich seiner Ansicht nach die problematischen Tendenzen von Wahlen ausgleichen. Aber auf jeden Fall lesenswert und anregend.
Cove schrieb:
Es ist viel einfacher zu sagen, AFD-Wähler seien Nazis oder Protestwähler. Aber die Realität sieht so aus, dass sie keine Alternative sehen, außer der vermeintlichen Alternative. Und da sind nicht nur CDU und SPD verantwortlich. Auch die anderen großen Parteien versagen.
Ich bin wirklich nicht gespannt darauf, worauf dieser ganze Mist noch hinausläuft.
Einerseits bin ich geneigt dir zuzustimmen, denn es mangelt nicht an Indikatoren dafür, dass viele Regionen des Ostens abgehängt sind, sowohl was Verkehrsinfrastruktur als bspw. auch die ärztliche Versorgung gilt. Ganz offensichtlich wird es dann, wenn man sich anschaut, dass sich die ostdeutschen Bundesländer allesamt im unteren Bereich der Einkommens befinden. Selbst im ökonomisch schwächsten Bundesland der ehemaligen Bundesrepublik liegt das verfügbare Nettoeinkommen rund 23 % höher als in Brandenburg, welches den besten Wert der ostdeutschen Bundesländer hat. Ich selbst habe mich gefragt, weshalb ich bspw. in Leipzig nur 2/3 des Weihnachtsgeldes aus meiner Kieler Zeit bekomme, obwohl beides unter dem Deckmantel des TVöD (West bzw. Ost) läuft. Dafür gibt es doch kaum eine logische Erklärung. Gründe für Frust und Enttäuschung kann ich gerade in ländlichen Räumen absolut nachvollziehen, zumal ich ja auch selber aus einem Dorf mit nicht einmal 100 Einwohnern komme, inmitten einer zutiefst ländlichen Region.
Es gibt aber ein großes aber: Strukturschwache Regionen gibt es auch im Westen zu Hauf, ebenso wie viele Regionen wo im Prinzip seit Jahrzehnten nichts seitens der öffentlichen Hand investiert wurde. Dennoch fangen sie nicht an Haufenweise zur AfD zu laufen. Das mag etwa in Schleswig-Holstein mit eine katastrophalen Landesverband zu tun haben, hat aber auch mit der politischen Kultur zu tun. Wie erklärt es sich sonst, dass selbst eigentlich funktionierende Dörfer in Brandenburg und Sachsen sehr hohe Zustimmungswerte für die AfD haben, und diese selbst in prosperierenden Städten wie Dresden oder Leipzig ihre Wähler finden. Hier begeben wir uns dann in den Bereich der über viele Jahrzehnte hinweg mangelnden Auseinandersetzung mit rechten Tendenzen und Vergangenheiten, und den daraus entstandenen Strukturen. Viele der heute sehr AfD-freundlichen Regionen blicken ja auf eine sehr vitale Vergangenheit rechter Strukturen zurück, sei es nun die NPD, DVU oder die Republikaner. Siehe dazu auch den weiter oben verlinkten Artikel.
So kommt in dieser Region womöglich einiges zusammen, was in der Konsequenz zu dem führt, was bspw. Adorno (in der jüngst posthum publizierten Rede vom April 1967) als kollektiven gekränkten Narzissmus umschreibt. Viele Menschen denken, dass ihnen die Rolle und Position in der Gesellschaft, welche sie selbst für angemessen halten, vorwährt bleibt, mit der Folge, dass alles als potentielle Gefahr der eh schon schwachen Stellung gedeutet wird. Es ist ziemlich selbsterklärend, dass dann eine Partei mit dem Versprechen, eben diese Leute wieder zu jemandem zu machen, reichlich Zulauf erhält.
Noch einmal: Dieses Gefühl abgehängt zu sein mag nachvollziehbar sein, denn viele Regionen sind am aussterben und es gibt viele gebrochene Biographien. Zweifellos wurden viele Fehler begangen, teils auch wider jeglicher Vernunft, hauptsächlich von der Westpolitik, aber auch seitens der ehemaligen DDR-Bürger, welche auch nicht bereit waren, nach der Wende auf die "Versprechungen des Westens" mit Geduld zu reagieren. Das Ventil ist aber es aber nicht. Was bleibt zu tun? Man muss die verfestigten rechten Strukturen sprengen und sich um die Leute kümmern, Präsenz zeigen und, dass man sich kümmert. Damit wird man die AfD nicht verschwinden lassen, aber womöglich dazu beitragen, dass sie auf ein Normalmaß gestutz wird. Der Partei und ihren Mitgliedern selbst darf aber keine Plattform geboten werden, vielleicht lernen das auch endlich mal die Medien in ihrer "Man muss doch mit denen Reden und sie demaskieren"-Hybris.